Transregionale Studien

Transregionale Studien

Was sind transregionale Studien? Wem nützen sie? Worauf reagieren sie?

Die in den letzten Dekaden immer intensiver gewordenen Verflechtungen von Wirtschaft, Politik, Kommunikation und Kultur wirken sich auf alle Lebensbereiche aus – sie beeinflussen nicht nur die Politik jedes Landes, sondern auch die Wahrnehmungen und Erfahrungen der Lebenswelt jeder und jedes Einzelnen. Die Prozesse von Globalisierung und (auch digitaler) Vernetzung verbinden, entgrenzen und fragmentieren Gesellschaften und die Welt. Zugleich stellen sie neue Herausforderungen an die Wissenschaften dar, an die vorherrschenden Narrative und die Ordnung des Wissens selbst. Austausch und Interaktion, Verflechtung und Netzwerke charakterisieren unsere Welt, ebenso wie neue Parochialismen, Grenzen, Ungleichheiten und Konflikte, die aus grenzüberschreitenden Prozessen hervorgegangen sind. In vielerlei Hinsicht sind die akademischen Wissenschaften heute nicht mehr ausreichend in der Lage, die Fragen zu stellen und die Antworten zu generieren, die auf die Wirklichkeit und Zukunft einer vernetzten und globalisierten Welt reagieren.

Vor allem zwei »Geburtsfehler« der modernen Kultur- und Sozialwissenschaften stehen einer systematischen Erfassung weltumspannender Prozesse im Wege. Beide gehen auf die Herausbildung des modernen Wissenschaftssystems im Europa des 19. Jahrhunderts zurück. Erstens waren die meisten Sozial- und Humanwissenschaften in ihrer Genese an den Nationalstaat gebunden. Fächer wie die Geschichtswissenschaft, die Soziologie oder die Literaturwissenschaft blieben in ihren Themen- und Fragestellungen, aber auch in ihrer gesellschaftlichen Funktion auf die eigene Gesellschaft bezogen. Darüber hinaus führte der »methodologische Nationalismus« der akademischen Disziplinen dazu, dass der Nationalstaat auch theoretisch und über den Einzelfall hinaus als grundlegende Untersuchungseinheit vorausgesetzt wurde: der Territorialstaat als »Container« der Gesellschaft. Dadurch war das Wissen über die Welt diskursiv und institutionell in einer Weise vorstrukturiert, welche die konstitutive Rolle von Austauschbeziehungen tendenziell ausblendete.

Zweitens waren die modernen Disziplinen zutiefst eurozentrisch. Sie stellten die europäische Entwicklung in den Vordergrund und sahen Europa als zentrale Triebkraft der Weltgeschichte. Und noch grundlegender: Das begriffliche Instrumentarium der Sozial- und Kulturwissenschaften stilisierte die europäische Geschichte zum Modell einer univer­salen Entwicklung. Vorgeblich analytische Begriffe wie Nation, Revolution, Gesellschaft oder Fortschritt transformierten die konkrete eu­ropäische Erfahrung in eine (universalistische) Theoriesprache, welche die Interpretation anderer Gesellschaften und Vergangenheiten bereits vorwegnahm und gewissermaßen »europäisierte«.

Inzwischen hat sich die Situation radikal verändert. Die Welt des 21. Jahrhunderts ist globaler, multipolarer, vielschichtiger geworden. Europa ist im Zeitalter der Globalisierung längst zu einer Region unter anderen geworden. Aber die Begriffe und methodischen Ansätze der Wissenschaften tragen ebenso wie ihre Narrative und die disziplinäre Ordnung weiterhin die Spuren ihres Entstehungskontextes: Sie untersuchen die globale Welt der Gegenwart mit den nationalstaatlichen Konzepten des 19. Jahrhunderts. Was wir stattdessen benötigen, ist eine transregionale Perspektive auf die Herausbildung einer verflochtenen Welt, die Unterschiede anerkennt und im Sinne der Idee einer Welt transzendiert.

Der Ansatz der transregionalen Studien ist ein Schritt in diese Richtung. Er geht nicht von abgegrenzten, monadischen Nationalstaaten aus, sondern von einer Situation der Austauschbeziehungen und der Verflechtung. Im Kern transregionaler Perspektiven steht die Einsicht in die konstitutive Rolle von grenzüberschreitenden Interaktionen für die Herausbildung und Zukunft der modernen Welt. Der Ansatz zielt auf der allgemeinsten Ebene daher auf eine Überwindung der bisherigen Sozialtheorien, die in der Regel innerhalb eines internalistischen Paradigmas operierten.

In den grand récits der Modernisierung, auf denen ein Großteil der empirischen Forschung explizit oder unausgesprochen beruht – seien sie nun marxistischer oder modernisierungstheoretischer Herkunft –, wurden historische Zusammenhänge endogen erklärt und typischerweise innerhalb einer Gesellschaft analysiert. Der transregionale Ansatz hingegen bevorzugt Interpretationen, die den Interaktionen und Verflechtungen sowie den gesellschaftsübergreifenden Strukturen eine wichtige Rolle zubilligen.

Nationen, Zivilisationen oder »Europa« lassen sich nicht aus sich heraus erklären: Mit dieser theoretischen Prämisse geraten dann auch Teile der Wirklichkeit in den Blick, die bislang ausgeblendet wurden. Im deutschen Wissenschaftssystem fand Geschichte vor allem in Deutschland statt, Literatur und Kunst in Europa sowie ethnologische Studien in dem, was lange die »Dritte Welt« war. Inzwischen kann man in vielen Disziplinen Ansätze beobachten, den Untersuchungsgegenstand auszuweiten: Globalgeschichte, die Diskussion über Weltliteratur oder eine interkulturelle Kunstgeschichte. Methodisch stützen sie sich auf den Vergleich, die Transferanalyse und die Untersuchung von Integrationsprozessen. Noch sind das vielfach vereinzelte Ansätze, die jedoch darauf zielen, die Trennung von Wirklichkeitsbereichen – die ja mit sich bringt, dass Parallelen und Verflechtungen gar nicht in den Blick geraten können – zu überwinden.

Dabei wird es immer wichtiger, sich der Vielfältigkeit und Multi-Perspektivität unseres Verständnisses von Verflechtungsprozessen bewusst zu werden. Die »Welt« sieht anders aus – je nachdem, von wo aus man sie betrachtet. Wissen ist an Positionalität gebunden,  und deshalb müssen transregionale Studien eine Vielzahl an Perspektiven mit berücksichtigen. Das Ziel ist nicht eine deutsche oder europäische Sicht auf die Welt, sondern der Dialog mit unterschiedlichen Interpretationen und Deutungen, im Austausch mit Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aus anderen Teilen der Welt. Nicht nur der Gegenstand ist transregional, sondern auch der Prozess und das Personal seiner Erforschung.

Das Berliner Forum Transregionale Studien hat es sich zur Aufgabe gemacht, die aus dieser Situation resultierenden Chancen und Herausforderungen für die Geistes- und Sozialwissenschaften aufzunehmen. Es schafft intellektuelle und wissenschaftliche Freiräume, um internationale Forschungsperspektiven zu vernetzen.

Das Forum entwickelt und organisiert Forschungsprogramme, die innovative Fragestellungen verfolgen und verschiedene Formen der internationalen wissenschaftlichen Zusammenarbeit ermöglichen. Im Rahmen seiner Programme lädt das Forum Fellows aus aller Welt nach Berlin ein. Die einzelnen Projekte sollen wiederum in die Forschungslandschaft und die Wissenschaftsinstitutionen zurückwirken. Seit seiner Gründung im Jahr 2009 hat sich das Forum Transregionale Studien zu einem Ort des internationalen Austauschs und der Kommunikation entwickelt.

Die Diskussion über mögliche Inhalte und Methoden von transregionalen Studien wird vor allem auf unserem Blog »TRAFO – Blog for Transregional Research« geführt wie bspw. in der Blogreihe »All Things Transregional?«, oder in unseren Printpublikationen oder denen unserer Mitglieder und Kooperationspartner wie dem Dossier »Reimers Konferenzen Revisited« und Matthias Middells »The Routledge Handbook of Transregional Studies«.